14.11.2022

Vor dem Tod sind alle gleich???

Podiumsdiskussion im Rahmen der Wochen der Armut mit Professor Gerhard Trabert

Goeb Siegen. Das letzte Hemd hat bekanntlich keine Taschen und vor dem Tod müssten die Menschen doch  eigentlich alle gleich sein. Aber ist das auch so? Prof. Dr. Gerhard Trabert, genannt der „Straßendoc“, prominenter Mediziner aus Mainz und mit seinem Verein Armut und Gesundheit in Deutschland jeden Tag bei den Obdachlosen, hat da andere Erfahrungen gemacht. In Mainz war der Trauergemeinde verstorbener Obdachloser lange der Zutritt zur Kapelle verwehrt, wenn nicht 200 Euro Miete gezahlt wurden. „Das führte dazu, dass wir die Verabschiedungsfeiern dann draußen vor der Tür abhalten mussten“, berichtet Trabert in der vollbesetzten Bismarckhalle, wo Caritaskoordinatorin Anne Ploch im Namen der veranstaltenden Fachkonferenz Caritas des Dekanates Siegen zu einem Abend mit Lesung, Diskussion und Markt der Möglichkeiten begrüßt. Der Abend steht unter dem herausfordernden Motto „Noch im Tod ausgegrenzt?“

Obdachlosigkeit und früher Tod

Wer arm ist und womöglich obdachlos, stirbt statistisch gesehen 8,6 Jahre früher, wenn er ein Mann ist, bei obdachlosen Frauen liegt die Lebenserwartung 4,4 Jahre unter dem Mittel. „Und von den Obdachlosen“, berichtet der Straßendoc (Motto: „Wenn der Patient nicht zum Arzt kommt, muss der Arzt eben zum Patienten gehen“), sterben 35 Prozent auf der Straße. „Nicht nur ich habe das Gefühl, dass die Coronazeit unter den Wohnungslosen viel mehr Opfer fordert als zu anderen Zeiten.“ Nicken bei den Caritasangehörigen: Drei langjährige Gäste des „Mittagstisches“ in Siegen sind kurz hintereinander verstorben und haben bei denen, die sie kannten und umsorgt haben, für Sprach- und Fassungslosigkeit gesorgt.

Vom Bettler bis zum Bischof

Gerrit Ebener-Greis von der ambulanten ökumenischen Hospizhilfe wirkt nachdenklich, nachdem sie den Ausführungen des Mediziners gelauscht hat. „Ich glaube“, sagt sie, „dass wir ganz viel davon mitnehmen können und dass wir uns zum Teil neu aufstellen sollten“. Irmtrud von Plettenberg (Trauerpastoral/Seelsorge)  stimmt uneingeschränkt zu. „Ich hatte vorgestern zwei Bestattungen vom Sommer“, erzählt sie. „Da hieß es: Machen Sie aber schnell. Ich habe gesagt: Das kann ich nicht.“ Ihr gefällt, dass Trabert den dänischen Familientherapeuten Jesper Juul zitiert mit seinem Begriff „Gleichwürdigkeit“. In der Weidenauer Kolumbariumskirche, berichtet sie, mache man keine Unterschiede. „Wir bestatten konfessionsunabhängig vom Bettler bis zum Bischof“, sagt sie.

Wer obdachlos ist, hat kein Geld und oft genug keinen Kontakt mehr zu Verwandten. In solchen Fällen übernehmen Stadt oder Kreis die Kosten für eine sogenannte Sozialbestattung. 300 Bestattungen dieser Art hat die Stadt Siegen in drei Jahren übernommen, Kostenträger ist der Kreis. Das berichtet Andreas Kornmann, über dessen Schreibtisch die Fälle laufen. Was an Geld da ist, muss sinnvoll eingesetzt werden. Vor allem die Bestatter sollen nicht auf den Kosten sitzenbleiben. „Erschreckend viele sind das“, findet Andrea Dittmann, die den Austausch moderiert. Gerhard Trabert versorgt mit dem Arztmobil nicht nur die Armen medizinisch. „Uns sind würdevolle Trauerfeiern und Beerdigungen ein großes Anliegen.“ Als er die Lebensgeschichte des 59-jährigen Rumänen Iwan erzählt, der bei einem islamistischen Anschlag in Madrid Frau und zwei Töchter verloren hat und dann in Mainz an einem Lungenkarzinom erkrankt, schnäuzen sich einige Menschen im Publikum. „Therapien für nicht-krankenversicherte Menschen sind in Deutschland einfach nicht vorgesehen“, berichtet der Straßendoc.

Einmal hatte ein Krankenhaus einen Obdachlosen nach der Erstversorgung mit Urinbeutel im Rollstuhl vor die Tür gesetzt. Erst nach juristischen Drohungen lenkte das Haus ein. Auch Iwans Therapie kam nach langem Hin und Her zu spät. Er starb in einem Wohnheim, während eine krebskranke Frau sich weigerte, ein Krankenhaus auch nur zu betreten. Sie wolle in ihrem Zelt sterben und wurde dort nach nur 14 Tagen tot gefunden. Therapiekosten von vielen Tausend Euro könne auch die Malteser Migranten Medizin – Hilfe für Menschen ohne Krankenversicherung nicht stemmen, räumte die Ärztliche Leiterin Dr. Felizitas Hoferichter ein.

Zeichen für die Kumpels

„Wir haben regelmäßige Gedenkveranstaltungen für wohnungslose Verstorbene in der Kirche eingeführt“, sagt der Straßendoc. Zum Teil werden sogar Traueranzeigen in der Zeitung gestaltet, und bei den Urnengräbern wird darauf geachtet, dass Name und Lebensdaten der Verstorbenen vermerkt werden. „Das sind wir nicht nur den Verstorbenen schuldig“, sagt Prof. Trabert abschließend. „Es ist ein ganz wichtiges Zeichen für die Hinterbliebenen, und das sind in vielen Fällen die Kumpels.“ Erleben die nämlich eine Beerdigung ohne Würde mit, wissen sie genau: So verscharren sie dereinst auch mich.

 

Caritasverband Siegen-Wittgenstein e.V

Hinweis auf Veröffentlichungen des Referenten:

Der Straßen-Doc – Unterwegs mit den Ärmsten der Gesellschaft (Gütersloher Verlagshaus 2019)

Am Abgrund der Menschlichkeit – Begegnungen mit Menschen auf der Flucht (adeo 2021)

 

 

Mit freundlicher Abdruckgenehmigung der Siegener Zeitung. Text und Fotos: (Andreas Göbel).